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Unter der Überschrift

Szenen, die anhaltend erschüttern - THEATERPROJEKT „Die Hagestolzen“ widmen sich Folgen des Nazi-Terrors für nachkommende Generationen“


besprach
Matthias C. Dinger vom Odenwälder Echo am 3. März 2016 die Veranstaltung:

Mit einer absolut ungewöhnlichen Inszenierung widmete sich das Projekttheater „Die Hagestolzen“ den Generationen übergreifenden Folgen des Nazi-Terrors im Dritten Reich. Es war eine große Herausforderung, im Michelstädter Schenkenkeller auf fünf Bühnen gleichzeitig fünf Episoden darzustellen, die sich alle – in autobiografischer Erzählung – um die Auseinandersetzung mit den Folgen der Nazi-Herrschaft für nachfolgende Generationen drehten. Bewusst wurden die fünf Bühnen akustisch nicht voneinander getrennt. Die anfänglich empfundene Kakofonie der Geräusche zwang die Zuhörer, sich in der allgemeinen Geräuschkulisse auf einen Punkt, auf ein Thema zu fokussieren. Vorgetragen wurden fünf Episoden von fünf Frauen, die auf ganz persönliche Weise zeigten, wie das traumatische Erlebnis des Hitler-Terrors auch über Generationen hinweg Menschen beeinflusst, betroffen macht und Scham erzeugt.

Da gibt es die Frau (Simone Obenhack), die das Gefühl hat, gegen eine Mauer der Unwissenheit zu laufen, die nicht von der Stelle kommt, von Angst und Verzweiflung getrieben ist bis zum völligen Zusammenbruch. Erst aus dieser Erschöpfung heraus ist sie in der Lage, wieder mit ihrer Umwelt in Kontakt zu treten.

In einer anderen Szene befasst sich die Darstellerin (Barbara Linnenbrügger) in einer Art Seminar mit ihrer „Gefühls-Erbschaft“. In einer Gegenüberstellung der 1968-er Jahre mit der Zeit um 1933 schlüpft Linnenbrügger in die Rolle einer Zeitzeugin, die sich im Protest gegen die miefigen, vom Nationalsozialismus noch immer durchwirkten Gesellschaftsstrukturen der Nachkriegszeit wehrt. Sie flüchtet sich in die Mitgliedschaft der KPD-ML, um sich der Stärkung des Proletariats zu widmen. Den Zusammenbruch jener K-Gruppen empfindet sie heute als Glück, ihr Handeln als Flucht von einem totalitären System in ein anderes. Im Rückblick empfindet sie Scham.

Die Erkenntnis, dass der geliebte Opa eine dunkle Seite hat, die Nazis in der eigenen Familie Unterstützung fanden, war Thema einer dritten Szene (mit Hanne Hieber): „Nein, Nazi war der Opa nicht!“ Was sollte man machen, man war ein Kind des Krieges und so genau wusste man ja auch nicht, was da geschah. Der Nationalsozialismus wurde als schicksalhaft wahrgenommen, man selbst war quasi Opfer von Fehlinformation. Und waren es nicht die Juden selbst, die mit ihrer Misswirtschaft den Zorn des Volkes auf sich zogen? Viele Argumente, die eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Schuld verhindern. Kinder und Enkel indes empfinden Scham.

Die vierte Episode: Der Vater wird liebevoll als Büste verehrt, zärtlich bedacht von seiner Tochter (Manuela Meyer-Schwenk). Dann tauchen plötzlich diese Kriegstagebücher auf, die einen ganz anderen Vater zeigen: freiwilliges Mitglied der Waffen-SS, von ihm begangene Grausamkeiten. Wer war dieser Mann wirklich? Darf ich meinen Vater noch lieben oder muss ich mich seiner schämen?

Endgültig die Schamesröte ins Gesicht treibt es dem Zuhörer, als Ima Krüger und Ulli Zelta-Rosche am Fall der Familie Oppenheimer aus Fränkisch-Crumbach vortragen, wie eine Wiedergutmachungsleistung in Form einer auf das Nötigste heruntergerechneten Entschädigungszahlung für erfahrenes körperliches Leid gewährt wird. Zynisch und vollkommen entmenschlicht versucht die Justiz unter dem Deckmantel der Objektivität und Sachlichkeit, „wirtschaftlichen Schaden“ vom Staat abzuwenden. Welcher Geist verbirgt sich dahinter, angesichts der Deportation und Ermordung von Menschen davon zu sprechen, sie hätten „ihren Hausrat im Stich gelassen“? Schuldhaftes Verhalten? Fehlanzeige. Kein Wort ist in den Akten zum Leid der Oppenheimers zu finden. Der Wert eines Monats im KZ wurde mit 150 D-Mark festgelegt. Angesicht dieser vermeintlichen Versachlichung eines grauenvollen Schicksals zeigt sich die Macht der Sprache, die sich besonders in der Rechtsprechung der Gefahr unterwirft, Wahrheiten bis zur Unkenntlichkeit zu verstümmeln und geschichtliche Sachverhalte sprachlich aus den Geschichtsbüchern zu löschen. Was bei dieser szenischen Aufarbeitung von Fallakten zu den Oppenheimers aus den 1960er Jahren beim Zuhörer bleibt: tief greifende Erschütterung, die bisweilen an die Grenzen des Erträglichen geht.